Gestern war ich mal wieder bis spät abends am Lernen - die nächste Informatik-Klausur steht an. Wer mich kennt, kennt auch meinen etwas seltsamen Tagesrythmus - der eigentlich eher ein Nachtrythmus ist. Solang es die Vorlesungen erlauben, stehe ich um 17-18 Uhr auf und gehe um 8-9 Uhr ins Bett.
So auch gestern abend.
Eine warme, sternklare Julinacht. Eine kleine, stickig warme Studentenwohnung mit brummendem Kühlschrank und sehr schmaler Auswahl an Grundnahrungsmitteln.
Nicht aufgeräumt, aber relativ frisch geputzt.
Inmitten des Schauplatzes: ein einsamer Student, der sich seitenweise Skriptseiten im PDF-Format auf dem Monitor durchzieht. Wie ein Kettenraucher seine Glimmstengel.
Die Stunden vergehen langsam, es wird immer heißer.
Als sich schließlich der Schweiß an den Fingerspitzen aufperlt und droht, die Tasten des Trackballs zu verkleben, kommt plötzlich Bewegung in das ruhige Ensemble.
Der Student springt genervt auf, und bringt das harmonische Chaos, gleich einem lawinenartigen Geröllbrocken, der in einen ruhigen See fällt, ins Wanken.
Auch ein stoßartiges Öffnen der Balkontür hilft wenig - obwohl schon die letzten spärlichen Fetzen am Oberkörper gewichen sind, verschafft die kühle Nachtluft auf dem Balkon nur wenig Linderung vor der allgegenwärtigen Hitze. "Ich bin nun mal ein Wintertyp, verdammt nochmal", dröhnen die Gedanken durch das kleine Zimmer.
Ein Bedürfnis nach Platz, nach Kühle wird immer stärker und füllt schließlich das gesamte Gedankenbild aus, erfüllt jeden kleinen Winkel von Vorhaben, die heute nacht noch anstehen.
Ein schneller Entschluß wird gefasst, der Rucksack ausgeleert und - zur seelischen Beruhigung - die Kamera mitgenommen. Fotografieren bei Nacht entspannt ungemein, und Entspannung ist jetzt genau das Richtige.
Noch schnell den letzten Rest des Lieblingsgetränks - eisgekühlter Pfirsichnektar, sommers wie winters - heruntergekippt, und dann endlich raus hier.
Der erste Eindruck nach dem Verlassen des Wohnungskomplexes ist reine Freiheit.
Daß die Umgebung auch merklich stiller wird, ist erst eine spätere Wahrnehmung - das ständige Gedröhn von der Party im Untergeschoß war gar nicht richtig ins aktive Bewußtsein vorgedrungen. Aber dafür ist die plötzliche Stille um so himmlischer.
Ein tiefes Durchatmen, Lichter an und mit dem Fahrrad ab nach unten.
Während der Fahrtwind um die Ohren flattert, wird ein einsamer Beschluß gefasst - es gibt in Ulm eine weite Brücke, von der man eine sehr schöne Aussicht - und auch gute Chancen auf reizvolle Fotomotive hat.
Die Idee wächst heran, sich auf diese Brücke zu setzen, die Welt sich selbst zu überlassen und einfach mal auszuspannen. Genau, man könnte ab und zu ein Foto von vorbeikommenden Autos schießen, und ansonsten im trüben Schein der Straßenbeleuchtung und dem lauwarmen Sommernachtsklima das neulich ausgeliehene Buch über den Aufbau des menschlichen Gedächtnisses lesen. Stundenlang. Einfach so, egal welchen Sinn das jetzt haben möge.
Der Berg nähert sich dem Fuß zu, alle Ampeln sind abgeschaltet, der Straßenverkehr nur noch minimal. Somit gönne ich mir den Luxus, auf die erstklassigen, aber engeren Fahrradwege zu verzichten und die normalen Fahrstreifen zu benutzen. Wieder das leichte Gefühl von Freiheit.
An der gewünschten Brücke angekommen, lasse ich mir Zeit mit der Auffahrt - heute ist nicht die passende Zeit für körperliche Verausgabungen. Oben angelangt, lasse ich meinen Blick über das weite Schienengelände schweifen - eigentlich ist es die größte Brücke Ulms, die über die Bahngleise führt. Diese sind nachts mit kontrastscharfen, orangeleuchtenden Natriumdampflampen erhellt, und zusammen mit der mondlosen Nacht ergeben sich wirklich traumhafte Motive. Die Einstellungen für meine Kamera laufen wie von selbst, und in Sekundenschnelle habe ich den passenden Ausschnitt meines Motivs im Sucher und drücke ab.
Das ist schon fast Meditation, geht es mir durch den Kopf, die fünf, zehn, fünfzehn Sekunden zu warten, bis das Bild fertig belichtet ist. Nicht auch nur ansatzweise bewegen, nur die Sinne spielen lassen. Nach zwei Aufnahmen des unter mir liegenden Areals drängt es mich aber weiter - zu meinem ursprünglichen Vorhaben.
Der Wunsch nach Stille, nach Ruhe und eigener Besinnung ist es, der mich weiter treibt, bis auf den Scheitelpunkt der Brücke. Wieder widerstehe ich dem Impuls, mit einem Höchstmaß an Kraftaufwand nach oben zu treten, und fahre die kleine Strecke gemächlich.
Und da trifft es mich - wie aus heiterem, wolkenlosem, sternklarem Himmel. Dicht am Brückengeländer, auf dem Fußgängerstreifen, am Scheitelpunkt der Brücke, sitzt ein junger Mann. Im Schneidersitz, eine Flasche Sangria neben sich stehen, ein Buch in den Händen. Seine Haltung macht den Eindruck, als säße er schon ewig auf dieser Stelle und würde auch noch eine mittlere Ewigkeit dort sitzen bleiben. Ein Bild des inneren Einklangs und der Harmonie, unter dem harten Licht der Straßenlaterne.
Ich komme mir vor wie in einem Film, in dem ich mitspiele, ohne vorher das Drehbuch gelesen zu haben. Diese gesamte Situation ist so unwirklich; meine Gedankengänge beinahe hundertprozentig exakt umgesetzt, nur nicht von mir, sondern von einem vollkommen Fremden. Vielleicht nicht einmal ein Student.
Nur ist das kein Film, das ist das reale Leben, ohne Drehbuch, ohne Regie.
"Was soll das? Das war meine Idee!", schießt es mir durch den Kopf. Aber im gleichen Moment kommt mir diese Regung schon wieder egoistisch vor - schließlich ist es sehr gut möglich, daß der Kerl genau die gleichen Gedankengänge hatte, nur offensichtlich einige Zeit vor mir auf die Ausführung gekommen ist. Schicksal.
Das sagt sich leicht, aber als konsequenter Anti-Determinist ist es mir eigentlich verwehrt, an etwas von höherer Instanz, wie das Schicksal zu glauben...
Nun gut, die Tatsachen muß man nehmen, wie sie sind. Ein Teilen des Platzes kommt nicht in Frage, das Vorhaben war von Stille, Ruhe und vor allem Einsamkeit geprägt.
Diese Brücke ist zu klein für uns Zwei, wäre der passende Spruch dazu im ebenso einsamen Wilden Westen. Also widme ich mich weiterhin den Fotos. Die Belichtung kommt gut voran, der Weißabgleich wirkt wenigstens auf dem kleinen Display natürlich, und Autos kommen auch in genügender Menge vorbeigefahren, um interessante Lichteffekte zu erzielen.
Ab und zu werfe ich einen verstohlenen Blick rüber zu dem jungen Mann, der immer noch - fast regungslos - in seiner meditativen Position verharrt, und ich beginne, immer leiser zu werden. Für jedes störende Geräusch, beginne ich zu denken, käme mir ein mißmutiger Blick von dem anderen zugeflogen.
Auf der Brücke fühle ich mich zunehmend als störendes Objekt, als Fremder. Ich glaube, zuerst den Mißmut des anderen, dann zunehmende Verachtung förmlich zu spüren.
Daher sattle ich meinen Drahtesel wieder und setze meinen Weg fort - fort, nur fort von hier.
Epilog:
Alles in Allem sind es wirklich schöne Fotos geworden, und meine Entspannung kam auch nicht zu kurz.
Nur, im Nachhinein frage ich mich, wie die Geschichte ausgegangen wäre, hätte ich angefangen, mit dem einsamen Mann auf der Brücke zu reden...
1 Kommentar:
Da ich ebenfalls in einem äußerst kleinen Zimmer im dritten Stock eines Hauses mit zu lauten Nachbarn lerne, kenne ich das Gefühl sehr gut. Zusätzlich zu der Außentemperatur von gefühlten 50°C, kommt noch die warme Abluft einer Tiefkühltruhe, eines Kühlschranks und eines Bigtower-Gehäuses....ja schon eine studentische Idylle....
Glücklicherweise ist das für mich ab heute Abend für immer vorbei, da morgen meine absolut allerletzte Klausur (Wirtschaftsprüfung) ansteht. Wenn ich bestehe gibts zur Belohnung eine Diplom-Arbeit, wenn nicht gibts Arbeitslosigkeit ;)
Gruß, Oli
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