4.6.05

Jugendschwärmerei


Lisa, verführerisch

Klassentreffen.
Was verbindet der Durchschnittsmensch mit diesem Begriff?

Einverstanden, das kommt ganz auf die persönliche Vergangenheit an.
Der frühe Schulabgänger wird wohl kaum sehr erfreut sein, die Kollegen zu treffen, die es alle viel weiter gebracht haben als er selbst - und deshalb erst gar nicht erscheinen. Mit einem Hauch von Selbstmitleid und gepeinigten Gesichtszügen wirft er also die elegante Einladungskarte in den Papierkorb.
Jugendliche, die ihre besten Schuljahre erst noch vor sich haben, sehen diese Veranstaltung als willkommenen Termin für exzessive Besäufnisse - dabei ist es mehr oder weniger irrelevant, ob sie überhaupt zur feiernden Klassengemeinschaft gehören/je gehört haben. Hauptsache Party. Hier werden auf die Rückseite der Einladung die zu besorgenden Schnapsvorräte notiert.
Dieser Ansatz ist auch nicht zu verurteilen, sorgt er doch für einen anständigen Altersdurchschnitt und ein gerüttet Maß an Stimmung. Nichts langweiliger als spießige Ehemalige, die sich gegenseitig mit ihren Diplomen und Doktortiteln, Eigentumswohnungen und Ehefrauen, Autos und Monatseinkommen langweilen.
Diese Kategorie Mensch stellt sich die Einladungskarte in die wöchentlich abgestaubte Vitrine, zusammen mit zahllosen verschnörkelten Karten fristet sie dann ihr restliches Dasein.

Ich zähle mich, wie üblich, zu keiner der genannten Kategorien. Ob das jetzt objektiv auch so stimmt, mag zwar in Frage gestellt werden, ist aber letztendlich egal.
Tatsache ist, daß heute ein Klassentreffen stattfindet. Ich wurde von einem Freund per SMS davon benachrichtigt (ungefähr eine halbe Stunde vor Beginn) und erschien auch pünktlich zwei Stunden später. Zu dieser Uhrzeit, gegen 23 Uhr, war die Partyfraktion natürlich schon in ihren fortgeschrittenen Zügen, und ich verspürte irgendwie relativ wenig Lust, mich der ausgelassen tanzenden und torkelnden Meute anzuschließen. Zumal mir kurz vorher noch erklärt wurde, die guten Cocktails wären alle schon weg, alkoholhaltig wäre nur noch das Bier (zu 1,50) oder eine ziemlich schlechte Kopie eines Batida de Coco (2,00).
Heute ist nicht mein Tag, dachte ich mir und entschloss mich daraufhin spontan zur Abstinenz.

Alkoholfrei auf einer Schülerparty umherzuwandeln hatte auch seine guten Seiten: man konnte sich ziemlich sicher sein, in einigen Fällen einen gewaltigen Vorsprung an sprachlicher Logik und Zusammenhang gegenüber dem lange bekannten Gesprächspartner zu haben.
Sehr zu meinem Bedauern waren nicht alle Bekannten aus der Schulzeit durch Ethanoleinfluß enthemmt worden, und so verliefen einige Gespräche nach wenigen Worten wieder im Sand. Was sollte man sich auch groß mitteilen, im Grunde hatte sich ja in dem verstrichenen Jahr wenig geändert. Man war immer noch am Ackern, um den Anforderungen gerecht zu werden, und das Ausmaß an Lernerei hatte sich auch eher noch verschlimmert.
Nur, dermaßen nüchtern betrachtet, stellte sich die Frage, warum solche - wörtlich gesehen - nichtssagenden Persönlichkeiten denn überhaupt zu einer Veranstaltung wie dieser erscheinen. Leute, die man gar nicht anzusprechen braucht. Keine neuen Informationen, keine Anekdoten aus den letzten zwölf Monaten, kein Unterhaltungswert. Im wahrsten Sinne wertlos für eine Party, wahre Stimmungsbrecher, solche Leute.
Stimmungsbrecher, das ist ein gutes Bild. Diese Besucher stehen mit unstetig schweifendem Blick ziemlich verkrampft in der Menge, mit einem obligatorischen Bier in der Hand, und positionieren sich immer in die ungünstigste Lage für andere, stimmungsvolle Leute auf dem Weg zur Bar. Stehen im Weg.
Wie ein Fels in der Stimmungsbrandung - jeder Hauch von Belustigung prallt chancenlos an ihnen ab. Da wurde mir klar, wozu ordentliche Parties einen Türsteher bezahlen - damit Langeweiler wie diese vor der Tür bleiben und keinen Mißmut in die Feierlichkeiten bringen können.

Die DJs wechseln, die Musik wird etwas beschaulicher. Ich sehe mich nach bekannten Gesichtern um, und da sind sogar mehr davon als erwartet. In dem mittelgroßen Schulhof drängen sich sicherlich über 300 junge Leute, und es dauert eine ganze Weile, sich im Kopf eine Liste mit ehemaligen Klassenkollegen zu schreiben. Aber die Liste wird ganz schön lang, und es sind einige unerwartete Besucher dabei. Leute, von denen ich weiß, daß sie in Städten studieren, die mindestens ebenso weit weg von hier sind wie Ulm, tauchen plötzlich überraschend in der Menge auf. Darunter auch - und mir wird heiß unter der lauen Sommernacht - ein Mädchen, mein persönlicher Schwarm aus der Schulzeit, schon eine wahre Jugendliebe. Nur leider eine recht einseitige Liebe - die vermaledeite Schüchternheit war bisher immer in unüberwindbares Hindernis einer ernsthaften Beziehung gewesen. Aber, vielleicht, geht es mir durch den Kopf, mit der geballten Erfahrung aus zwölf Monaten Selbstständigkeit im Rücken, könnte ich endlich einmal genug Selbstvertrauen aufbringen und ein normales Gespräch mit ihr führen?

Ich stehe unentschlossen in der Menge, die an mir vorbeitreibt und ein paar halbwüchsige Rüpel stoßen sich ganz physisch an meiner Gesellschaft. Verwirrt weiche ich aus und hole mir erstmal ein kaltes Bier, um die innere Hitze - und Verlegenheit - etwas zu dämpfen. Nach ein paar Momenten an der Bar und zwei weiteren Flaschen ist meine Hemmschwelle gegenüber dem anderen Geschlecht zwar nicht deutlich gesunken, aber sehr wohl die meiner Mitmenschen, denen ich aus lauter Verzweiflung meine Tragödie gebeichtet habe. Eigentlich hatte ich ja nicht damit gerechnet, daß bei der Lautstärke von Hintergrundmusik noch eine halbewegs verständliche Story bei meinem - auch schon lang bekannten - Gesprächspartner ankommt, aber dieser hat offensichtlich mein Dilemma verstanden und würdigt meine verzweifelte Situation nicht im Geringsten.
Ganz im Gegenteil, ich benehme mich wie ein verliebter Teenager, wenn ich wirklich Mumm hätte, solle ich doch auf meinen Schwarm offen zutreten und ihr mein Anliegen kundtun - so oder in so ähnlichem Ton werden mir halb gutgemeinte, halb genervte Ratschläge gegeben.

Die drei Bier tun allmählich seine Wirkung, und obwohl die Musik immer noch nicht tanzwürdig ist (was einige Dutzend bauchfreie Mädchen interessanterweise komplett anders sehen), ist der Rythmus in Verbindung mit Lautstärke wenigstens nicht mehr unerträglich. Irgendwie wird mir bewußt, daß heute irgendwie nicht mein Tag sein kann.
Wieder einmal stehe ich unschlüssig in der Menschenmenge, und als ich mit einem völlig unerklärlichen bösen Blick und dem gezischten Wort "Langweiler" bedacht werde, entschließe ich mich verwirrt zur Handlung.
Gemäß dem Sprichwort "Augen zu und durch" - Volksweisheiten können in solchen Situationen wirklichen moralischen Halt bieten - steuere ich die Hauptfigur vieler meiner Träume mit geschlossenen Augen an, und spreche mir während des Gangs immer wieder Mut zur Tat zu.
Noch mit gesenktem Blick, bringe ich die lächerlich profanen Worte
"Hallo Ramona, na, wie gehts so?" hervor.
Leider war mein blinder Gang nicht ganz kerzengerade verlaufen, und so stehe ich fünf Meter neben meinem Ziel, meiner Mathelehrerin. Die erfreut mit mir ein Gespräch über alte Zeiten anstimmt.

Nein, heute ist wirklich nicht mein Tag.

PS: Lisa, falls du das liest, mach dir keine falschen Hoffnungen. Du warst lediglich das hübscheste Titelbild, das ich auf die Schnelle auf Lager hatte ;) Verzeih mir bitte.

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