17.10.05

Gesellschaftstauglich



Uni Ulm

Wieder ein sonniger, kühler Sonntag Nachmittag - der Herbst liegt in den letzten Zügen, zeigt sich aber noch von seiner besten Seite.
Nach den beinahe erholsamen Semesterferien (meine Prüfung habe ich bestanden - wer sich auskennt, weiß, wie knapp 50 Punkte sind) steht mir wieder einmal eine Fahrt nach Ulm bevor.

Die letzte Woche war ich auch nicht untätig - anstatt die letzten warmen Herbsttage zu genießen und faul in der Sonne zu liegen (ist daheim ohnehin nicht möglich, da gibts an jeder Ecke was zu tun) habe ich vier Werktage lang den Vorkurs Mathematik in der Uni Erlangen besucht. Der bietet in der Woche vor Semesterbeginn eine Einführung in die Thematik des Mathematik-Diplom/Lehramt-Studiums, und weil meine mathematischen Leistungen eher unter aller Sau als Mittelmaß sind, war ich natürlich dabei.
Und allzu stressig war es auch nicht - einerseits habe ich von den meisten Themen schon mal gehört, und andererseits hatte ich nette Begleitung.
Mine - eine etwas weitläufigere Bekanntschaft aus meinem Freundeskreis - will Mathe-Informatik-Lehrerin werden, und sie hat mich die ganze Woche über mit ihrem genauso hübschen Audi die 60km nach Erlangen kutschiert.
Sie liest hier mit Sicherheit nicht mit, aber ich bedanke mich trotzdem nochmal ;)

Was ich allerdings in der Woche Erlangen wirklich vermisst habe, war meine wöchentliche Zugfahrt. 80 Minuten Autofahrt sind doch bedeutend weniger erholsam als 130 Minuten Zug - selbst wenn man 4. Klasse reist. Die Staus, Baustellen, der zähe Berufsverkehr, das ständige Bremsen und Schaukeln, verbunden mit minimaler Bewegungsfreiheit, das alles ist nicht sehr komfortabel und ich war nach vier Tagen schon wieder froh, nicht jeden Tag zur Uni fahren zu müssen. (OK, wenigstens nicht mit dem Auto - mein Fahrrad hat nebenbei auch noch ein paar Upgrades verpasst bekommen, damit der Weg zur Uni besser flutscht ;)

Jedenfalls stehe ich dann letzten Sonntag am Bahnsteig, ich bin - untypisch - viel zu früh dran. 20 Minuten vor Termin ist bei mir eine einmalige Sensation...
Aber als ich dann am Fahrkartenautomat (da läuft übrigens WinNT4 SP6 drauf, ich hab schon mal so ein Ding abstürzen sehen) meinen trägen Mausklicks zusehe, spricht mich ein Mittsechziger an und fragt mich, ob ich in Richtung Augsburg fahre.
Der Mann mit gutmütigen Gesichtszügen hat mittellanges, graues Haar, eine schottisch karierte Baskenmütze auf dem Kopf, und erklärt mir, daß er für sein BayernTicket noch vier Mitfahrer suche.

Ich bin natürlich dafür (Donauwörth, meine erste Umsteigestation liegt auf dem Weg nach Augsburg, die Folgefahrkarte müßte ich dann im Zug oder in Donauwörth holen), stimme zu und schwinge mich auf mein Fahrrad.
Die Zeit drängt, denn ich muß meine bescheidenen Finanzen von 3,50 Euro noch aufstocken - in einer Stadt, in der ich bisher ein, zweimal war und somit keinen Schimmer habe, wo die Geldautomaten zu finden sind. Mein Zeitplan ist fest, ich habe noch 16 Minuten, das macht 9 Minuten für Suche und 7 für Rückfahrt.
Nach einer eher weniger gemütlichen Fahrt durch den Stadtpark und durch die anschließende Innenstadt bin ich schon ziemlich außer Puste. Noch drei Minuten - aber ich wußte jetzt, wo ich hin mußte. Noch schnell einen kleinen Spurt in Richtung Hauptstraße und rein in die Sparkassenfiliale - zum Glück sind meine Vorgänger mit dem einzigen Automaten schon fertig, und ich kann in höchster Eile noch genug Geld für die Zugfahrt abheben.
Und weil ich als Fahrradfahrer auch die zeitraubende Baustellen-Umleitung ignorieren kann, bin ich sogar schon in 5 der 7 Minuten wieder am Bahnsteig.
Mein Vertrauensmann hat in der Zwischenzeit noch drei weitere Mitstreiter um sich geschart - alles junge Leute, etwa 4-6 Jahre älter als ich, herbstlich gekleidet.

Natürlich bestraft mich das Schicksal wieder einmal - meine wohlkalkulierte Zeitplanung war zwar nicht aus den Fugen geraten, aber er wird mit höhnischer Mißachtung gestraft: Der Zug kommt knapp 10 Minuten zu spät.
Jetzt liegt die Entscheidung, ob ich wieder einmal zwei Stunden in Donauwörth auf den Anschlußzug warten darf oder die Verspätung wenigstens auf verträgliche 6 Minuten reduziert wird, voll in der Hand des Zugführers. Eine meiner vier Begleiter spricht mir in dem Fall aus der Seele - "Da gabs keinen Selbstmord, keine Attentäter, keinen Schnee - warum kommt der Depp zu spät???"

Ansonsten geht im Zug alles seinen gewohnten Gang - wie immer sind die Großraumwaggons gut gefüllt, wie immer macht der Zug bei jedem erdenklichen Bahnhof (11 Stück in 58 Minuten) Halt, wie immer quetscht sich ein überqualifizierter, unterbezahlter Schaffner durch die Gänge und knipst die Fahrscheine.
Meine drei Begleiter - der alte Mann hat sich am gegenüberliegende Ende des Waggons einen Sitzplatz verschafft - erzählen sich und mir ein paar Kleinigkeiten rund um das Leben als Student. Leider habe ich weder eine Kamera dabei (der Rucksack war schon übervoll) noch kann ich mich jetzt an die Namen erinnern - wenn jemand von euch das hier lesen sollte, bitte schreibt wenigstens einen Kommentar mit Foto!

Aber - ganz und gar nicht gewohnt ist ein Detail, das mir erst langsam auffällt.
Im Zug verbreitet unsere zufällig zusammengewürfelte Gruppe einen Aufmerksamkeitspunkt, ein klassisches neuralgisches centre of attraction. Die Atmosphäre wird hier, im Epizentrum, um einige Grade weniger frostig und reserviert - die Temperaturunterschiede lassen sich vielleicht mit einer zusammengerollten, schlafenden Katze auf einer tragfähigen Eisschicht vergleichen.
Nach wenigen Minuten greift das Loch im vorgebrochenen Eis in die direkte Nachbarschaft über, die Sitznachbarn ignorieren das laufende Gespräch nicht mehr völlig, sondern geben auch beiläufige, gutgemeinte Kommentare ab. Die Dame gegenüber von mir traut sich sogar, bei einem Scherz mitzulachen - ein völliges Novum in der ansonsten streng gehüteten Anonymität des Bahnabteils.
Wie weit "unsere" Stimmungswelle um sich greift, bekomme ich nicht im Detail mit - aber nach einigen Minuten dreht sich sogar ein Mädchen von dem Sitzreihen-Doppel diagonal vor uns um und hört zu.
Auch der Schaffner läßt sich anstecken, und ist bei der Fahrkartenausgabe merklich freundlicher als seine Kollegen in anderen Regionalzügen. Erstaunlich - bisher kamen mir die Kerle vor, wie vor dem Dienst frisch tiefgekühlt.

Möglicherweise hat sich unsere Welle den Weg durch die vier Waggons bis ganz vorne gebahnt und die Ausläufer haben noch den Zugführer erwischt - denn zehn Minuten vor dem planmäßigen (und zwanzig Minuten vor dem tatsächlichen) Halt in Donauwörth verkündet er freundlich, daß sämtliche zeitkritischen Anschlußzüge trotz Verspätung noch erreichbar wären.
Ein paar Minuten später verabschiede ich mich von meinen Kollegen im Epizentrum, aber nicht, ohne eine Web-Adresse zu hinterlassen (wehe, ihr schreibt nicht in die Kommentare!)...

Und als ich dann fluchtartig - auf meinem beinahe verkehrssicheren Fahrrad - auf meinen Anschlußzug zufahre, denke ich bei mir, Bahnfahren ist doch erstaunlich gesellschaftstauglich...

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