9.5.06

Grundfarben



Blütenblätter


Ich liebe Gerüche.
Genau wie ich Farben liebe, nur gibt es davon so wenige. Drei oder sechs Grundfarben, beliebige Mischungen davon, variiert mit deren Sättigungen. Die Helligkeitswerte lasse ich ohnehin unter den Tisch fallen, die sind so relativ wie der Gedanke selbst. Aber Gerüche eröffnen eine Vielfalt, die weit über die der Farben hinausgeht. Zwar ist auch hier das Konzept der Mischungen und der verschieden starken Abstufungen zu erkennen - doch abgesehen davon, daß selbst die Einwirkungsstärken verschiedene Eindrücke hervorrufen, gibt es so viel mehr Grundfarben im Geruchsspektrum. Es ist eine reine Freude, langsam zwischen den verschiedenen Gärten den Berg hinabzufahren, die leicht kühle Nachtluft um sich zu spüren und die Augen zu schließen, um alle Dufteindrücke voll wirken zu lassen. Meine Lieblingswirkung von Gerüchen sind Erinnerungen. (Gerüche gehen durch das Kleinhirn direkt in das Unterbewußtsein, weil es der älteste Wahrnehmungssinn des Menschen ist...)
Gestern bin ich durch die Stadt gefahren, und beim Um-die-Ecke-biegen ging mir ein Duft in die Nase, der mich spontan an Pokemon erinnerte. Aber nur eine Sekunde, dann war der Flash sofort spurlos verschwunden. Ich war so verblüfft, daß ich die erstaunten Blicke der Leute in der Eisdiele auf mich nahm, kehrtwendete und die gleiche Strecke nochmal fuhr. Vergeblich - weder der Geruch noch die Erinnerung wiederholten sich. Wer weiß, wo ich diesen Eindruck her hatte - jedenfalls war die Ursache dafür schon geraume Zeit vergangen. Dann, heute, nachdem ich um eine kleine Biegung auf einem kleinen Verbindungsweg gebogen bin, kommt mir ein intensiver Blumenduft entgegen. Ich genieße ihn und bin schon fast enttäuscht, als ich ihn wieder verliere - aber es geht weiter abwärts am Berg. Und, in der nächsten Sekunde, kommt die Erinnerung an Bulgarien in mir auf. Im Nachhinein weiß ich sogar ziemlich genau, wo diese Erinnerung herkam - ab und zu mußten wir durch einen kleines, parkähnliches Gelände mit einer Treppe aus Natursteinen, um an den Strand zu kommen. Und auf genau so einer Steinstufe hatte ich anscheinend den gleichen Geruch in der Nase - sehr faszinierend, wenn man bedenkt, wie lang das schon her ist und wie unwichtig diese Situation war. Ich kann jetzt sogar noch sagen, wie hoch die Treppe in etwa war, welcher Streckenabschnitt danach folgte, welche Farbe die Pflastersteine hatten, wieviele Bäume in etwa am unteren Wegrand standen, und daß am Wegrand kleine, weiße Blumen gepflanzt waren (auch wenn sie mit Sicherheit nicht der Auslöser für diesen Duft waren).
Unter solchen Erlebnissen glaube ich ernsthaft daran, daß ein Mensch unter Hypnose (neurologisch: fremdbeeinflußte, außerordentlich zielgerichtete Zusammenschaltung von Synapsen zum Ziel der 100%igen Konzentration auf einen einzelnen Aspekt) oder unter Meditation (dito, nur selbstbeeinflußt) so ziemlich jeden Teilaspekt seines bisherigen Lebens wieder aufrufen kann. "Vergessen" wird ein sehr relativer Aspekt, wenn man sich das Gedächtnis mal bei einigen seltsamen Aktionen beobachtet.

Und - der Gedanke kam mir, als ich von meiner Meditationsfahrt schon fast zuhause war - ich bin froh, in der heutigen Zeit zu leben. Das Internet und dessen soziale Auswirkungen werden in einem Jahrhundert selbstverständlich sein, und ich genieße die Umbruchsstimmung, in der wir leben. Dadurch, daß die Situation nicht konstant bleibt und viele elementare Wandlungen im Gange sind, bekommt auch der Einzelne die Macht, große Dinge zu bewegen. Wie eine Ameise, die in der Lage ist, ein auf der Kippe stehendes Glas vom Tisch zu werfen - oder eben nicht. Je nachdem, womit dieses Glas gefüllt ist, es liegt in der Entscheidung dieses Einzelwesens.
Es ist keine Kunst, die absolut richtige Entscheidung zu treffen und alle Konsequenzen eines zerbrochenen Glases im Voraus abzusehen.
Die Kunst ist es, das wacklige Glas auf einem Tisch voller Becher rechtzeitig zu erkennen, rechtzeitig loszulaufen und schließlich als erster seine Entscheidung auch durchzuführen. Und dann mit den Konsequenzen leben zu können.

Für Jenny

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hi Dominic ,

vielen Dank für den Link auf den Tellerrand ;-)

Beste Grüße aus Schwapodding ;-)

Alex